Vor einigen Wochen waren Flo und ich bei einer Regionalkonferenz von Slow Food. Eines der Themen: Kann ein Restaurant mit hervorragender italienischer Küche in den Slow Food Genussführer aufgenommen werden, wenn es seine Zutaten ausschließlich aus der Region bezieht und saisonal kocht, ohne dass es traditionell deutsche Küche anbietet?

Um diese Frage zu verstehen muss man wissen, dass bei Slow Food eine Herangehensweise wichtig ist, der „Denkmalschutz durch Aufessen“. Das bezieht sich auf alte Pflanzen- und Tierarten, deren Bestand nur geschützt werden kann, wenn die Nachfrage gegeben ist. Das bezieht sich jedoch auch auf traditionelle Rezepte und Zubereitungsweisen einer Region, die in Vergessenheit geraten würden, wenn es keine engagierten Köche mehr gäbe, die sie in ihren Restaurants anbieten.

Daneben arbeitet Slow Food nach drei Grundsätzen. Gut, sauber und fair. Das bezieht sich auf umweltfreundlichen Anbau, auf Tierwohl, auf gute Arbeitsbedingungen für die Menschen und damit auch auf Regionalität und Saisonalität. Mehr Hintergrundinfos zu Slow Food gibt es in diesem Artikel, aber für meine Geschichte sollte diese Info ausreichen.

Kurz gesagt: Slow Food will Traditionen in der Küche schützen. Bei Zubereitung und bei Zutaten. Das heißt Slow Food Frankreich, nutzt französische Zutaten und schützt französische Traditionen, Slow Food Deutschland, nutzt deutsche Zutaten und möchte deutsche Traditionen schützen. Eigentlich eine feine Sache.

Aber was ist nun mit dem Italiener, der täglich auf dem Erfurter Wochenmarkt einkauft, aus seinen Thüringer Kartoffeln jedoch keine Klöße formt, sondern Gnocchi?

Die Diskussion, die entbrannte war hitzig und kam zu keinem Ergebnis.
Für uns blieb die Frage, was ist Tradition überhaupt?

Kennt in Thüringen jeder: Nudeln mit Feuerwehrsoße

Tradition bezeichnet „die Weitergabe […] von Handlungsmustern, Überzeugungen und Glaubensvorstellungen […] innerhalb einer Gruppe oder zwischen Generationen […]. Die soziale Gruppe wird dadurch zur Kultur […] und Tradition ist in dieser Hinsicht das kulturelle Erbe.“ (Wikipedia)

Traditionen sind somit nicht nur Bestandteil unserer Kultur, nein, sie sind unsere Kultur. Sie erstrecken sich in zahlreiche Lebensbereiche, wie den Glauben, die Arbeit und natürlich auch das Essen.
Aber woher kommen Traditionen?

Im Musical Anatevka wird das so beantwortet:

„Nun werdet ihr fragen, wie es mit diesen Traditionen angefangen hat.
Ich werde es euch sagen: Ich weiß es nicht.
Das ist eben Tradition.“

Traditionen scheinen aus dem Unbekannten zu kommen, sie sind einfach schon immer da. Irgendwann weiß keiner mehr, wo der Ursprung lag und sie sind nicht mehr wegzudenken. Glaubst du nicht? Dann hier ein paar Beispiele:
1. Der Weihnachtsmann. Scheint schon immer da gewesen zu sein, kommt in seiner heute verbreiteten Form aber maßgeblich aus einer Coca Cola Werbekampagne von 1931.
2. Die Kartoffel. Ist symbolhaft für Deutsche geworden, dabei hat sich ihr Anbau in Deutschland erst im 18. Jahrhundert nach Protesten durchgesetzt.

Es ist gar nicht so leicht, Traditionen zu verstehen, zurückzuverfolgen und am Ende sagen zu können, woher sie kommen. Verhaltensweisen kommen, passen sich ein, verändern sich und verschmelzen mit dem was schon da ist. Und irgendwann sind sie nicht mehr wegzudenken, weil sie gut sind. Weil sie dazugehören und das dagewesene bereichern.

Künefe ist eine typisch arabische Süßspeise und schmeckt zum Niederknien

Und damit zurück zum Italiener vom Anfang. Mit Pizza und Pasta auf der Speisekarte, kocht er also nicht traditionell deutsch sondern italienisch. Denn was ist italienischer als Pasta?
Ne ganze Menge, denn eigentlich kommt die Nudel aus China.

Kocht unser Italiener deshalb traditionell chinesisch? Eher nicht. Niemand würde abstreiten, das Pasta ein sehr wichtiger Teil der italienischen Kultur ist.
Und wie ist es mit der Nudel in Deutschland? Ist sie italienisch? Ist sie chinesisch? Sind Nudeln mit Feuerwehrsoße nicht definitiv traditionell ostdeutsch? Ich habe sie erst kennengelernt, als ich nach Thüringen gezogen bin und Flo isst sie schon sein Leben lang.

Worauf ich hinaus möchte: Traditionen wirken starr, dabei sind sie immer in Bewegung. Dinge kommen, Dinge gehen. Vieles bleibt und entwickelt sich weiter. Manches sperrt sich und bleibt ein bisschen länger. Aber von ganz weit weg betrachtet ist alles im Fluss, immer.
Aber Veränderung fällt Menschen oft schwer. Sie sperren sich, protestieren. Lehnen das Neue ab.

Geht es um Essen sind Menschen emotional.

Essen ist in der Lage Menschen in ihre Kindheit zurückzuversetzen. Der Duft von Bratwurst an einem Sommertag, das Geräusch des Brotschneidens vor dem Abendessen, der Geschmack von Mamas Klößen. Dass alles ist individuell und vieles wird als Tradition innerhalb von Familien weitergegeben: Rezepte, bestimmte Kniffe beim Backen der Weihnachtsplätzchen, Feiertagsspezialitäten.

Ich stelle mir einen Syrer vor, monatelang auf der Flucht, seit Jahren ganz weit weg von Zuhause, wie er in der ersten syrischen Bäckerei der Stadt endlich wieder Barazek-Kekse isst.
Ich denke an einen Nigerianer, der für seine Freunde in Deutschland Eintopf nach Rezept seiner Oma zubereitet und sie am Herd stehen sieht, wenn er den Duft einatmet.

Und dann sehe ich die Deutschen, die diese Kekse essen und feststellen. Die sind Lecker! Und ich sehe die Deutschen, die zum Eintopf essen eingeladen sind und merken, das ist köstlich!
Ratzfatz werden Rezepte ausgetauscht, vielleicht müssen die Kekse ohne Pistazien auskommen und der Trockenfisch im Eintopf wird durch eine andere Zutat ersetzt. Nach ein paar Jahren steht im heimischen Rezeptbüchlein vielleicht so etwas wie „Onkel Adesolas Eintopf“, aber die ganze Familie kennt die Suppe nur unter „das, was es fast jeden Samstag gibt, wenn es schnell gehen muss“. Der Eintopf ist Familientradition geworden.

Essen ist bunt, es entwickelt sich immer weiter. Wird verfeinert und abgewandelt, wird weitergegeben und geteilt. Kultur ist bunt, sie ist in Bewegung, vermischt sich, verändert sich. Ich wünsche mir das Thüringen bunt ist, offen ist und nicht stillsteht, dazugewinnt und sich darüber freut.

 

 

Dieser Beitrag ist Teil der Blogparade #bloggersindbunt mit der Fragestellung „In welchem Thüringen wollen wir eigentlich zusammenleben?“.
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