Wir gehen ins Noma! Den Satz muss ich mir erstmal auf der Zunge zergehen lassen. Es ist Frühling 2021. Mal wieder ist Lockdown. Das Leben plätschert so dahin und besteht im Wesentlichen aus Spaziergängen und Skype-Dates. Als ich am Schreibtisch sitze und mich Instagram von der Arbeit ablenkt, bleibe ich an einem neuen Post vom Noma hängen. Die Plätze für die Sommersaison sind online. Gepostet vor 6 Minuten. „Naja“, denke ich mir, „gucken kann man ja mal.“, und klicke auf die Buchungsseite. Und tatsächlich gibt es noch ein paar freie Tische im Sommer. Nach gar nicht so langem Überlegen buchen wir. Schließlich kann das Leben kurz sein, das hat uns Corona beigebracht. In den Kalender trage ich zwei Daten ein: Den eigentlichen Restaurantbesuch und den letzten Termin für die kostenlose Stornierung. Einige Monate später haben wir die Impfung im Arm und Dänemark hat seine Grenzen für deutsche Touristen geöffnet. Die Sonne scheint und wir sitzen auf dem Fahrrad, um von unserem Hotel zum Noma zu radeln. Das Noma, das eines der einflussreichsten Restaurants der Welt ist. Das Noma, das wesentlich dazu beigetragen hat, nicht nur die skandinavische Küche wieder aufleben zu lassen, sondern das noch weit darüber hinaus Trends setzt.

Die Gewächshäuser werden auch für das Fermentation Lab und die Bäckerei genutzt.

In Kopenhagen kommt man am Noma nicht vorbei. Zahlreiche ehemalige Mitarbeiter haben eigene Restaurants in der Stadt eröffnet oder werden einfach so vom Sog des Restaurants mitgenommen. Die Standards hier sind sehr hoch. Jeder in der Stadt kennt das Noma und jeder scheint es zu schätzen. Sicherlich hat dieses Restaurant einen Anteil daran, warum Kopenhagen momentan als eine der aufregendsten Food-Städte Europas gilt. Man merkt jedoch auch, dass das Restaurant lokal tief verwurzelt ist und zumindest nach außen wirkt es, als gäbe es ein großes miteinander.

Das Gelände des Restaurants liegt auf einer kleinen Halbinsel am Stadtteil Christianshavn. Als wir ankommen, werden wir schon erwartet und freundlich begrüßt. Hier guckt niemand schräg, weil man mit dem Rad zum Essen kommt. Das Noma ist zwar eine der Top-Adressen der Welt, ist aber weit weg davon gestelzt oder abgehoben zu sein.

Glückspilze im Garten. Vom NOMA!!

Nach der ersten Begrüßung werden wir den langen mit Blumenwiesen gesäumten Weg entlang zum Hauptgebäude geschickt. Rechts können wir in mehrere Gewächshäuser schauen, links glitzert das Wasser durch die wogenden Gräser. Ich habe mir schon oft vorgestellt diesen Weg zu gehen. Am Ende steht das moderne Hauptgebäude. Es wurde von der Bjarke Ingels Group eigens für das Noma designt und gemeinsam mit Studio David Thulstrup ausgestattet. Holz, Klinker und riesige Fenster beherrschen das Gebäude, es ist so luftig, dass man sich auch drinnen fast wie draußen fühlt. Im Zentrum des Hauptgebäudes befindet sich die riesige Küche, an der wir nach unserer Ankunft vorbeimarschieren. Urplötzlich halten alle Köchinnen und Köche in ihrer Arbeit inne und begrüßen uns freundlich. Diese unvermittelte Aufmerksamkeit ist so überraschend wie herzerwärmend.

Überall Holz, Pflanzen und andere Naturmaterialien.

Wir werden an unseren Tisch im Gastraum gebracht und sind noch dabei, staunend den Raum, die Menschen und die Begrüßung der Küche zu verarbeiten als uns der erste Gang serviert wird.

Es ist eine Blumenvase.

Und es ist eine Ansage. Im Noma sind die Dinge eben etwas anders als gewohnt. Hier geht es zu einem großen Teil darum, etwas Neues zu machen. Es geht darum Ideen zu entwickeln, wie Geschmack erzeugt, vermittelt und präsentiert werden kann. Wonach Dinge schmecken können und was man überhaupt alles essen kann. Angegliedert an das Restaurant ist das Noma Fermentation Lab, in dem kontinuierlich experimentiert wird. Niemand hier lacht, während er dir erklärt, dass du dein Gesicht tief in die Wildkräuter drücken sollst, wenn du die Vase ansetzt, um die kalte Bete Suppe in ihrem Inneren zu trinken.

Ich nenne dieses Gericht liebevoll: „Eine Hommage an Dinner for One“

Wenn es darum geht, Neues zu wagen, ist auch die alkoholfreie Getränkebegleitung eine gute Idee. In vielen Restaurants wird diese weiterhin vernachlässigt, im Noma ist sie eine eigene Wissenschaft. René Redzepi gilt in vielen Bereichen als Pionier, auch in diesem. Ein einfacher Saft kommt hier nicht ins Glas. Stattdessen Emulsionen aus Johannisbeerholzöl, Kombucha und noch so viel mehr.

Für das Beste aus zwei Welten wählen wir einmal die Weinbegleitung und einmal die alkoholfreie Variante. Es sei vorweggegriffen: beides war fantastisch!

Dann geht es richtig los. Mit einer Scheibe Schinken, die kein Schinken ist. Es handelt sich um rote Paprika, die vermutlich viele Stufen der Bearbeitung im hauseigenen Fermentation Lab hinter sich hat. Kombiniert mit einem Streifen geschmackvollem Speck vom Eber ist dieser Streifen Gemüse erschreckend geschmackvoll. Davon hätte ich gerne mehr!

Könnte ich bitte das Rezept bekommen, René?

Tatsächlich ist der Streifen Speck die einzige Fleischkomponente, die an diesem Tag serviert wird. Im Noma folgen jedes Jahr drei Zeiten aufeinander. Die Seafood-Season im Winter, die Vegetable-Season im Sommer und die Game & Forest-Season im Herbst. Wir befinden uns in der Gemüsezeit, die zwar nicht gänzlich vegetarisch daherkommt, aber traditionell ihren Fokus auf Pflanzen legt. In diesem Jahr sind jedoch auch einige Komponenten aus dem Meer in der Menüfolge vorhanden. Zuerst erreicht uns eine Seafood-Platte mit rohen Shrimps und Seegras. Ich bin eher kein Fan der Konsistenz von Meeresfrüchten, muss hier jedoch feststellen, wie buttrig und cremig die Shrimps schmecken. Danach folgt ein eisiges Mousse aus Shrimps, das im Mund zergeht und wunderbar mit angerösteten Bucheckern harmoniert, die sich unter dem rechteckigen Schaum verbergen. Auch die Hauptspeise ist von Meeresfrüchten beherrscht. Es gibt sautierten Hummer mit Blumen und Kräutern.

Eine Menge Hummer.

Ich möchte hier aber lieber auf unsere Favoriten eingehen: Grüne, zweifach geschälte Erbsen auf einem Pilz-Garum mit einem Löffelchen Sahne. Ist euch überhaupt schon mal aufgefallen, dass runde grüne Erbsen noch über eine Schale verfügen? Klar, mag mancher sagen, sonst wären sie ja nicht rund. Richtig! Aber ich sage euch, dass die Erbsen ohne Schale noch einen Hauch cremiger schmecken. Besonders mit dem geschmackvollen Pilzgel als Gegenpart. So einfach die Zutaten erscheinen mögen, so gut sind sie.

Diese kleinen Erbsenhälften sind doppelt geschält. Das ist sicherlich eine beliebte Aufgabe in der Küche.

Weiter geht’s mit einem warmen Beerensalat mit Holundersoße und Ameisen. Was auf den ersten Blick an ein unbeaufsichtigtes Picknick erinnert, erfüllt einen Mehrwert. Die Ameisen sind nicht nur zum Schocken, sie haben einen herrlichen Zitrusgeschmack, der das Gericht nach vorn bringt. Das Zusammenspiel von Wurzelgemüse mit der cremigen Soße und den frischen, süßen und warmen Beeren ist außergewöhnlich. Diese Kombination macht das Gericht zu einem meiner Favoriten des Tages.

Es ist nicht das erste Mal, das René Redzepi Ameisen in seinem Menü einsetzt.

Unter der Kategorie „Davon bitte eine Riesenportion“, fällt der Kabeljau-Popsickle, der mit Creme fraiche und Kaviar serviert wird. Wenn ich es nicht geträumt habe, dann handelt es sich tatsächlich um die Wange des Fisches, der hier so zart im Mund zerfällt. Der Fisch ist herrlich knusprig gebacken und das Mundgefühl wird durch die frische Creme und die salzigen Explosionen des Kaviars im Mund zu etwas unbeschreiblichem. Wenn ich mal eine Fish & Chips Bude aufmache, dann würde dies wohl auf ewig mein Maßstab sein.

Ich bin dankbar, dass ich dieses Gericht essen durfte. Es ist so lecker gewesen.

Während wir noch Artischocke in Eigelb-Whisky-Soße dippen, beobachten wir fasziniert die Bewegungen der Servicekräfte. Ähnlich wie im Fäviken gleicht es einem Tanz, der hier vollzogen wird. Jeder weiß exakt, was zu tun ist und wer welche Zuständigkeiten hat. Die Gläser werden ständig mit hervorragendem Wein gefüllt und neue Besteckteile erscheinen auf dem Tisch, so schnell und unauffällig, dass ich es manchmal kaum bemerke. Die Erklärungen und das gesamte Auftreten der Servicekräfte ist freundlich, lustig, professionell und einfach perfekt. Ich habe das Gefühl hier auf Augenhöhe mit Menschen zu sprechen, die Experten ihres Fachs sind und die alles geben, um mir zu erklären, wie dieses Essen, das von einem anderen Stern zu kommen scheint, erdacht und hergestellt wurde. Ich weiß nicht, ob Service besser sein kann, als der den wir hier erleben.

Kein Ameisenbär. 

Ziemlich überraschend geht das Menü nach ca. 2,5 Stunden dem Ende entgegen. Drei Desserts werden serviert, die alle ziemlich weit davon entfernt sind, was einen klassischen Nachtisch normalerweise ausmacht. Während der kleine Turm aus verschiedenen hauchdünnen Eisschichten noch dezent an Fruchtzwergeeis erinnert, ist das Waldmeisterdessert eher nicht süß. Kleine essbare Schüsselchen aus getrockneter Pflaume schwimmen in Sahne und sind mit Waldmeistereis gefüllt. Die Geschmacksrichtung ist eher herb.

Die hauchdünnen Schichten sind knusprig und cremig zugleich.

So wie das Menü im Noma mit dem Trinken der Tischdekoration beginnt, so ähnlich endet es auch. Eine kleine brennende Kardamomkerze steht vor uns auf dem Tisch. Flo pustet sie aus und steckt sie sich in den Mund. Die essbare Kerze ist schon ziemlich effekthascherisch und ist geschmacklich nicht so spektakulär, aber sie bleibt im Gedächtnis und darum geht es hier vielleicht. Die Gerichte im Noma sind nicht immer auf die gewohnte Art lecker. Manche sind eher interessant und in der Lage die Geschmacks- oder Erlebnisbibliothek zu erweitern.

Das Licht geht aus, wir geh’n nach Haus. 

Mit dem Ausblasen der Kerze ist das Menü vorbei und wir sind ein bisschen überrascht, weil das Ende des Menüs unangekündigt kommt. Wir sind noch nicht bereit zu gehen und nehmen deswegen noch ein Getränk im Außenbereich ein. Es ist angenehm warm und im Garten sind zahlreiche Insekten unterwegs. Wir lauschen wie am Nachbartisch andere Gäste damit flexen, welche Top-Restaurants sie schon besucht haben und grinsen in uns hinein, weil wir jetzt im Noma waren. IM NOMA!