Würde ich mit dem Stuhl noch ein kleines bisschen mehr nach rechts rutschen, dann läge ich im Gardasee. Ich würde im türkisfarbenen Wasser ertrinken, denn ich habe den Mund voll mit „Rose-Cake“, einem fluffigen Brioche in der Größe eines Kinderkopfs. Die letzten aufsteigenden Luftblasen würden an der Wasseroberfläche mit einem kleinen Puderzuckerfeuerwerk explodieren.

Nach einem Menü im Lido 84 zu sterben, wäre nicht der schlechteste Zeitpunkt. Nur die Petit Four zu verpassen, wäre wirklich eine Verschwendung.

Ein surreal schöner Ort: Lido 84

Aber kurz zurück zum Anfang: Das Lido 84 liegt am Ufer des Gardasees. Hier haben die Camanini-Brüder ein einfaches Strandlokal zu undenkbaren Höhen entwickelt. Ein Stern von Michelinguide und Platz 7 in der World’s 50 Best Liste zieren diesen romantischen Ort ebenso sehr wie die bezaubernde Aussicht auf den See, die schattige Terrasse und das romantische Gartenhäuschen.

Als echter Foodie bin ich jedoch zum Abendessen im Lido. Es ist März, früh dunkel und dementsprechend sehe ich vom See nur ein paar Enten, die im Schein der Restaurantlichter nach Futter suchen. Ironischerweise sind die Stühle dennoch zum Fenster ausgerichtet. Im Rücken das Restaurant, vor mir eine dunkle Fensterscheibe. Dann also volle Konzentration aufs Essen, das jedoch Unterhaltung genug bietet.

Richtig gute Haselnüsse machen wahrscheinlich alles gute noch ein bisschen besser.

Im Lido 84 gibt es 4 1/2 , 7 oder 8 Gänge – die sich jeweils noch mit Riccardo Camaninis Signature Dish Rigatoni Cacio e Pepe „en Vessie“ ergänzen lassen. Bei den beiden großen Menüs kann man zudem noch zwei weitere bekannte Gerichte (Spaghettoni, Butter, Brewer’s Yeast und Risotto, Black Garlic, Red Berries) in das Überraschungsmenü integrieren lassen. Laut Giancarlo Camanini (Gastgeber) dient das auch dazu, dass Gäste wie wir, die zum ersten Mal im Restaurant sind, die Geschichte der Küche verstehen können.

Wir entscheiden uns für 7 Gänge + Rigatoni – auch weil wir in Italien immer Angst vor zu großen Portionen haben (man denke an unser Erlebnis im Zash auf Sizilien).

Um für die gefährliche Grundsättigung zu sorgen, beginnt das Menü mit hervorragendem dunkel gebackenem Sauerteigbrot und den obligatorischen Grissini. Ich bin froh, dass es dazu weder Olivenöl noch Butter gibt, denn dann hätte ich mich sicher nicht zurückhalten können, das ganze Brot aufzuessen. Stattdessen nutze ich die knusprige Kruste für „Scarpetta“, die italienische Kunst, Soßenreste vom Teller aufzuditschen. In diesem Fall geht das hervorragend mit einem cremigen Petersilienwurzel-Püree, das mit Orangen- und Clementinen-Öl verfeinert ist. Ergänzt wird dieser fruchtig-blumige Geschmack mit schokoladig schmeckenden Haselnüssen, die mit Sicherheit aus Piemont kommen.

 Statt Blumen: Geschirr von Richard Ginori.

Rote Bete-Blatt-Roulade.

Nach einer ebenso ätherisch-duftenden Rote-Bete-Blatt Roulade mit Kartoffel- und Selleriewürfeln, wird uns das Risotto mit schwarzem Knoblauch und Kirsche serviert. Optisch erinnert es an Massimo Botturas „beautiful psychodelic, spin painted veal, charcoal grilled with glorious colors as a painting“, nur ist das Risotto nicht von den schwungvollen Farbklecksen von Damien Hirst sondern von den Farben der Kunst von Stefano Bombardieri inspiriert. Es ist köstlich! Die reiche Cremigkeit des fermentierten Knoblauchs gibt dem Gericht eine besondere Tiefe, die mit der Frucht einen wunderbaren Gegenspieler erhält.

Ich find’s so cool, dass in Italien gerne mal ein Gericht an ein Kunstwerk angelehnt wird.

Schnell werden uns die Spaghettoni mit Butter und Hefe serviert. Sollte ich jemandem erklären, wie viel Tiefe Fermente einem Gericht geben können, würde ich diesen Teller servieren. Die Nudeln sind so reich in ihrer Buttrigkeit und die Hefe gibt nicht nur einen angenehmen Crunch, sondern auch eine weitere, andere Cremigkeit dazu. Es ist toll.

Das Hefe so gut sein kann?!

Es folgt ein unvergleichlich knuspriges Stück Sweetbread vom Kalb, das auf einem Spiegel von Honig-Senf-Soße liegt. Tja, Salatsoße ist nach diesem Gericht leider auch nicht mehr das Gleiche.

 

Erstaunlich ist auch der unfiltrierte Orange Wine (2021, Fuorizoma, Villa Job) aus dem Grenzgebiet zu Slowenien, der dazu serviert wird. Ich habe noch nie einen so scharfen Wein getrunken.

Oh my sweet Sweetbread.

Wer wohl mal auf die Idee kam, Essen total unpraktisch in einer Schweineblase zu garen?

Unkonventionell geht es auch bei den Speisen weiter. Die Rigatoni Cachio e Pepe werden bei Camanini blind in einer Schweineblase gegart. Die Pasta bleibt, da sie nur durch den Dampf gegart wird, auf eine besondere Art bissfest, die diesem bekannten wie geliebten Gericht einen interessanten Twist gibt.

So schnell wie die Speisen bis zu diesem Punkt geschickt wurden, so erfreulich ist die Pause, die vor dem Hauptgang eingelegt wird. Wir starren auf die Enten, die vor uns im Wasser schwimmen, lauschen den anderen Gästen, die hinter uns sitzen, riechen immer wieder einen schwall teuren Parfüms, wenn jemand von seinem Sitz aufsteht und durch den Raum läuft. Das Publikum im Lido 84 ist sehr fancy. Ich würde sagen: weniger Foodies, viele Leute, die wegen des Lifestyles hier sind.

Noch etwas Fett auf ihr Fett?

Viel besser als der Rose Cake, aber einfach etwas unauffälliger.

Beim letzten herzhaften Gang beweist das Restaurant endgültig, dass es keine Angst vor Fett hat. Das 50-50 Püree (50 % Kartoffel, 50 % Butter) ist eine Ansage. Dazu gibt es ein Stück Bavette (aus dem Bauchlappen vom Rind), das mit Lardo belegt und mit Entenfett bepinselt ist. Obendrauf ersetzen würzige Krümel von Nebbiolo-Trauben, die mit dem lokalen Rotweinkäse Testun fermentiert wurden, den Steakpfeffer. Okay! Etwas süffisant weist uns der Kellner darauf hin, dass wir jetzt Produkte von vier verschiedenen Tieren verspeisen. Ja, danke, mein veganer Monat beginnt erst im April.

Ich habe eigentlich nichts anderes erwartet, als dass so viel Fett lecker sein muss und so ist es.

Als uns das riesige Brioche serviert wird, sind wir noch nicht übersättigt, danach jedoch schon. Denn falls ich es noch nicht erwähnt habe, man dippt das außen karamellisierte Kissen von einem Gebäck in eine Schüssel mit cremiger Zabaione. Sie ist so fest, dass kleine Zipfel stehen bleiben, wenn man das Gebäck hindurchzieht, danach schmilzt sie im Mund. Als wäre das nicht genug, gibt es auch noch ein warmes mit Aprikosenmarmelade gefülltes Teilchen, das wahrscheinlich direkt aus dem Himmel zu uns herabgesendet wurde, dazu. Als schwacher Versuch von Leichtigkeit ist die dritte Dessert-Komponente, ein Sorbet, eigentlich zu vernachlässigen.

Ja, man teilt sich das. Dennoch: die Hälfte wäre die bessere Menge gewesen.

Also jetzt sterben? Muss nicht sein, aber ich bin nach diesem seelenstreichelnden, warm-weichen Wohlfühlessen schon sehr zufrieden. Mit 140 € (+20 € für den Cacio e Pepe Gang) finde ich auch die Preisgestaltung fair. Die Weine waren spannend und gut erklärt (ich liebe den Vendicchio die Castelli di Jesi von Stefano Antonucci). Wenn ich mir jetzt als perfekte Beilage den Seeblick vorstelle, dann kann ich absolut verstehen, warum dieses Restaurant so beliebt und gefeiert ist. Ich komme wieder, in einem Sommerkleid und mit einem Platz auf der Terrasse!

Infos in Kürze:

Das Lido 84 ist von Donnerstag bis Montag zum Mittag- und Abendessen geöffnet. Es ist quasi immer ausgebucht. Die Reservierungen werden immer für die nächsten zwei Monate freigeschaltet – mehr Infos gibt’s auf der Website.
Für ganz besondere Anlässe kann man den kleinen Pavillion im Garten buchen und bei Bedarf auch mit dem eigenen Boot anreisen.

  • Gaumenwertung 8,5/10
  • Gesamterlebnis 8,7/10
„Sensationell, wir wollen nicht aufhören zu essen!“

DETAILIERTE BEWERTUNG

Mira
Flo
Mira&Flo
Gaumen 8,5/10 Gaumen 8,5/10 Gaumen 8,5/10
Getränke 8,5/10 Getränke 8,5/10 Getränke 8,5/10
Atmosphäre 9,5/10 Atmosphäre 9,5/10 Atmosphäre 9,5/10
Service 9,0/10 Service 9,0/10 Service 9,0/10
Gesamterlebnis 8,7/10 Gesamterlebnis 8,7/10 Gesamterlebnis 8,7/10